Das „Ernst-Schröder-Zentrum für Begriffliche Wissensverarbeitung e.V.“ ist ein gemeinnütziger Verein, der dem Fachbereich Mathematik der TU Darmstadt angegliedert ist und dort der Arbeitsgruppe Logik.
Was uns beschäftigt
Formale Begriffsanalyse - Die mathematische Grundlage
Wir beschäftigen uns mit der Formalen Begriffsanalyse (FBA). Das ist eine mathematische Theorie mit deren Hilfe Daten aus der Realität auf deren Strukturen untersucht werden können. Dabei soll das Wort
- „Formal“ darauf hinweisen, dass es sich um eine mathematische Konstruktion handelt,
- „Begriff“ darauf hinweisen, dass die Analyse Strukturen hervorbringt, die auf ähnliche Weise geordnet sind, wie die Begriffe im menschlichen Denken.
Das Anliegen ist, ein Verfahren bereit zu stellen, welches dem intuitiven menschlichen Denken möglichst weit entgegen kommt, ohne dabei die mathematische Schärfe aufzugeben
Begriffliche Wissensverarbeitung - Die praktische Anwendung
Über den mathematischen Kalkül hinaus interessiert uns dessen Anwendung in der Praxis, also die Begriffliche Wissensverarbeitung mit den Mitteln der FBA oder in verwandten Bereichen. Wir verstehen uns deshalb als transdisziplinär.
Was wir uns vorgenommen haben
Das Ernst-Schröder-Zentrum für Begriffliche Wissensverarbeitung e.V. fördert deshalb Ausbildung, Forschung, Entwicklung und Anwendung auf dem Gebiet der Begrifflichen Wissensverarbeitung. Dazu werden vom Zentrum Seminare, Tagungen, sowie Aus- und Fortbildungskurse veranstaltet.
Grundsätzlich geht es dem Zentrum um kritische Bestandsaufnahme, Entwicklung und Vermittlung von Ergebnissen, Methoden, Verfahren und Programmen der Begrifflichen Wissensverarbeitung.
Im Ernst-Schröder-Zentrum haben sich Humanwissenschaftler und Sozialwissenschaftler, Mathematiker, Informatiker, Informationswissenschaftler und Linguisten zusammengefunden. Sie wollen einem drohenden Abbau kognitiver Autonomie durch Wissens- und Informationssysteme, die vom Menschen nicht mehr kontrollierbar sind, entgegenwirken. Sie befürworten deshalb Methoden und Instrumente Begrifflicher Wissensverarbeitung, die Menschen im rationalen Denken, Urteilen und Handeln unterstützen und den kritischen Diskurs fördern.
Unsere Geschichte
Das Ernst-Schröder-Zentrum wurde 1993 auf Initiative von Rudolf Wille aus der „Forschungsgruppe Begriffsanalyse“ heraus gegründet.
Die Anfänge - Mathematik für Menschen
Rudolf Wille wurde 1970 als Mathematik-Professor an die TU Darmstadt berufen.
Mathematik verstand er nicht als Ansammlung von Kalkülen, sondern es war ihm immer wichtig, Menschen mit der Mathematik ein Werkzeug in die Hand zu legen, das ihnen nützlich ist. Deshalb sprach ihn ein 1974 erschienenes Buch von Hartmut von Hentig an: „Magier oder Magister? über die Einheit der Wissenschaft im Verständigungsprozess“. In diesem beklagte der Autor eine zunehmende Isolierung der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und forderte im Hinblick auf Wissenschaft: „sie besser lernbar, gegenseitig verfügbar und allgemeiner (d.h. jenseits der Fachkompetenz) kritisierbar zu machen.“
Von diesem Buch inspiriert, begann Rudolf Wille ab April 1978 im Rahmen einer „Arbeitsgemeinschaft Mathematisierung“ mit Studenten, Doktoranden, Assistenten und Kollegen nach einer engeren Verbindung von Mathematik und Lebenswelt zu suchen, mit dem Ziel, die Mathematik stärker am natürlichen Denken des Menschen auszurichten.
Eine neue Theorie wird geboren
In dem Protokollbuch der Arbeitsgemeinschaft Mathematisierung findet sich unter dem Datum 7.12.1979 erstmals und unter dem 13.12. ausführlicher ausgeführt eine Darlegung, dass Daten oft in Form eines Begriffsverbands gegliedert werden können.
Das mathematische Werkzeug dafür lieferten schon in den 1930ern erschienene Arbeiten von Garrett Birkhoff, insbesondere sein 1940 erschienenes Buch „Lattice Theory“
Einem breiteren Publikum wurde die neue Theorie der Formalen Begriffsanalyse auf der Tagung „Ordered Sets“ vorgestellt. Sie fand vom 28. August bis 12. September 1981 in Banff in Kanada statt. Im Rahmen dieser Tagung hielt Rudolf Wille seinen Vortrag, unter dem Titel „Restructuring lattice theory: an approach based on hierarchies of concepts“. Der Vortrag ist in dem dazugehörigen Tagungsband abgedruckt, der im darauf folgenden Jahr erschien, herausgegeben von Ivan Rival.
Die Arbeiten von Garrett Birkhoff und dessen Verbandstheorie sind von fundamentaler Bedeutung für die Formale Begriffsanalyse. Deshalb veranstaltete Rudolf Wille im Jahr 1991 aus Anlass von Birkhoffs 80. Geburtstag eine internationale Tagung zur Verbandstheorie an der TH Darmstadt. Bei diesem Anlass wurde Garrett Birkhoff auch die Ehrendoktorwürde durch die TH Darmstadt verliehen.
Die Theorie wird praxistauglich
Mit der Veröffentlichung der ersten Arbeiten setzt eine rasante Entwicklung ein:
In ersten Projekten wurde die Theorie auf reale Problemstellungen angewandt.
Ein Algorithmus: Bernhard Ganter entwickelte einen Algorithmus, um aus einem gegebenen Datenkontext den dazugehörigen Begriffsverband zu berechnen. Er legte damit die Grundlage, die mathematische Theorie in Form von Software praktisch umzusetzen. Dieser Algorithmus wurde 1984 in dem Aufsatz veröffentlicht: Two basic algorithms in concept analysis.
Generische Software: 1986 erweiterte Peter Burmeister bestehende Software-Ansätze zu der Software „ConImp“ (Contexts and Implications). Sie verfügte erstmals über eine generische Schnittstelle zur Datenerfassung.
Merkmalexploration: Außerdem beherrschte sie Merkmalexploration, ein interaktives begriffliches Verfahren zur Wissenserhebung.
Damit stand eine bedienungsfreundliche und vielseitige Software zur Verfügung. Sie wurde in Turbo Pascal, zunächst auf einem Apple II entwickelt und später auf andere Plattformen portiert.
Grafische Darstellung: Nachdem der Algorithmus gefunden war, um den Verband zu berechnen, und auch in Form von Software umgesetzt war, bestand die nächste Herausforderung darin, die gefundenen Strukturen in einer möglichst übersichtlichen Form graphisch darzustellen.
Mit Anaconda (Analysis of Concepts, Darmstadt) entwickelt Martin Skorsky, ein Doktorand von Rudolf Wille, eine Software, um genau das zu tun. Dabei kann die Grafik auch nachbearbeitet werden, um sie für Veröffentlichungen aufzubereiten und ansprechend zu gestalten. Dazu verfügte Anaconda über eine Schnittstelle zur Erzeugung Grafiken im LaTeX-Format.
Anaconda lief auf einem Atari. Die erste Bedienungsanleitung zu Anaconda trägt das Datum Juni 1989.
Kommerzielle Anwendung: Andere Doktoranden von Rudolf Wille entwickelten die Software „Toscana“. Sie legte den Fokus auf die praktische Anwendung: Sie besaß eine Datenbank-Schnittstelle und war darauf zugeschnitten, auch mit sehr großen Datenmengen und komplexen Strukturen umgehen zu können.
Eine Firma: 1994 gründeten Doktoranden von Rudolf Wille, nämlich Monika Zickwolff, Wolfgang Kollewe und Martin Skorsky die Firma „NaviCon GmbH“ (Navigate in Contexts). Später kam noch Frank Vogt dazu. Sie bot Dienstleistungen basierend auf der Formalen Begriffsanalyse auf einer kommerziellen Grundlage an. Wichtige Kunden waren: die Deutsche Börse, die Deutsche Telekom, die Bank Julius Bär, Bosch und Daimler. Dabei beschränkten sich die Projekte nicht auf die Formale Begriffsanalyse, sondern es ging um Datenanalyse in allen ihren Facetten.
Untersuchen von Prozessen: Karl Erich Wolff war bereits 1983 zu der Gruppe um Rudolf Wille gestoßen. Er entwickelte eine Erweiterung der Formalen Begriffsanalyse, die „Temporale BA“. Mit dieser Erweiterung der FBA lassen sich nun nicht nur statische Strukturen untersuchen, sondern auch die Abläufe von dynamischen Prozessen. 2001 veröffentlichte Karl Erich Wolff seinen Ansatz in dem Aufsatz „Temporal Concept Analysis“ .
Ein Neustart: Ca. 2003 wurde mit der Entwicklung von „ToscanaJ“ begonnen. In diesem Projekt flossen Erfahrungen aus den Vorgängerprojekten Anaconda, Toscana ein. später auch aus der Temporalen FBA. ToscanaJ wurde dabei von Grund auf neu konzipiert und unter eine Open-Source-Lizenz gestellt. Sie enthält Schnittstellen, um sie auch mit anderen Software-Paketen zu verknüpfen, so dass ganze Anwendungen mit ToscanaJ entwickelt werden können.
Was sonst noch geschah
Am 1. März 1993 gründeten Rudolf Wille und seine Mitstreiter das Ernst-Schröder-Zentrum für begriffliche Wissensverarbeitung e.V..
Am 9. Dezember stellte sich das Ernst-Schröder-Zentrum mit seinem ersten Kolloquium der Öffentlichkeit vor. Karl-Otto Apel sprach darin über „Diskursethik und Semiotik“
Das bislang am besten besuchte Kolloquium fand am 20. Januar 1995 statt. Joseph Weizenbaum vom M.I.T. sprach über „Künstliche Intelligenz als Ideologie“. Wegen des großen Andrangs musste zwei mal in einen größeren Hörsaal umgezogen werden.
Aus Anlass des 60. Geburtstags von Rudolf Wille wurde 1997 der Hörsaal 223 im alten Hauptgebäude der TU Darmstadt in „Ernst-Schröder-Saal“ benannt.
Im Jahr 2003 fand in Darmstadt die erste „International Conference on Formal Concept Analysis“ statt. Sie wurde zunächst jährlich, weltweit an wechselnden Orten organisiert. Später alle zwei Jahre, im Wechsel mit der Konferenz „Concept Lattices and Their Applications“.
Seit 2004 findet die internationale Konferenz „Concept Lattices and Their Applications“ statt, auf der die FBA ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.
Partnerschaften und Mitgliedschaften
Darmstädter Ontologenkreis
Der „Darmstädter Ontologenkreis“ besteht seit 2010. Wegen der sehr ähnlichen Interessengebiete kooperieren wir seit 2012 eng miteinander. Sie finden die Webseite des Ontologenkreises hier.
FIfF
Das Ernst-Schröder-Zentrum ist Mitglied im „Forum
InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche
Verantwortung e.V.“
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